«Arcadia» – 2. ReRenaissance-Festival - Andere - Seite 73
Wie seine Zeitgenossen interpretiert Poliziano den Mythos
von Orpheus neu und im Lichte der christlichen Kultur und
Ideologie seiner Zeit. Die Figur der Eurydike wird aus einer
misogynen Perspektive heraus gedeutet: Sie verkörpert die
Weiblichkeit, die den Ursprung des Unglücks darstellt. Aristaeus hingegen wird als Opfer betrachtet, das von der weiblichen Verlockung in die Irre geführt wurde. Orpheus wiederum verkörpert die Masslosigkeit des Dichters, der glaubt,
die Gesetze der Welt umstossen zu können. Seine Fähigkeit,
das Universum zu verzaubern, verdankt er allein seiner göttlichen Herkunft: als Sohn von Apollo und der Muse Kalliope
besitzt er die Macht, sich selbst die Natur gefügig zu machen.
Orpheus überschreitet dabei die menschlichen Grenzen und
wird von den Bacchanten bestraft.
In den Kreisen der Florentiner Akademie wurde die Figur des
Orpheus darüber hinaus zu einem Sinnbild für die homophile
Liebe, die von zahlreichen Humanisten als überlegen angesehen wurde, da sie mit dem platonischen Konzept der Tugend
assoziiert war. Poliziano selbst machte daraus kein Geheimnis, wie mehrere seiner griechischen und lateinischen Epigramme belegen.
Die Fabula di Orfeo ist ein Gedicht, in erster Linie aber ein
Werk, das daraufhin angelegt war, auf einer Bühne vorgetragen und gesungen zu werden, wie es damals am Hofe üblich
war. Die Originalmusik ist nicht erhalten, aber Spuren im Text
und Berichte über die Aufführungen zeugen von ihrer Bedeutung. Für unsere Konzertversion haben wir uns entschieden, den Grossteil des Textes gesungen zu präsentieren. Um
Melodien zu finden, die den vorhandenen Rezitationsmustern
entsprechen, mussten wir auf die frühesten Sammlungen zurückgreifen, die die Wiederbelebung der italienischen Musik
zwischen 1470 und 1500 dokumentieren. Darüber hinaus wurden italienische Lieder aus der franko-flämischen Tradition
hinzugefügt, die die Handlung deuten und kommentieren.
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